Mittwoch, 19. Januar 2011

Gertrud Bäumer zur Wahl der Nationalversammlung 1919

(Fotonachweis DHM)
Knapp 51 Jahre, nachdem die Verfassung für den Norddeutschen Bund und das spätere Kaiserreich verabschiedet worden war, waren die Deutschen 1919 erneut aufgerufen, eine verfassungsgebende Nationalversammlung zu wählen. Die meisten Liberalen wären wohl mit der Demokratisierung, wie sie das Kaiserreich kurz vor seinem Ende noch vollzogen hatte, bereits zufrieden gewesen, gingen dann aber doch mit Feuereifer in den Wahlkampf.
Denn erstens wurden die Gefahren, die Deutschland von einem Rätesystem oder gar einer Bolschewisierung drohten, durch die Wahl einer Nationalversammlung stark eingedämmt. Zum anderen konnte nun, anders als ein halbes Jahrhundert zuvor, die Verfassung vom Parlament frei ausgehandelt werden.
Schließlich konnten auch erstmals Frauen zur Wahlurne gehen. (sh. auch http://karlsruheliberal.blogspot.com)
In der Ausgabe der Hilfe, Nr. 5 vom 30. Januar 1919 schreibt sie:
"Sonntag, 19.Januar.
"Der Wahltag. Man hat vor innerer Inanspruchnahme, Belastung mit allen Geschehnissen, vor lauter Fülle schmerzlicher und in jedem Sinne anspruchsvoller Eindrücke nicht recht den Raum in sich, um fanz sich bewußt zu werden; Der erste Wahlgang der Frauen. Ziel eines Jahrhunderts - Beginn eines Jahrtausends. So werden wir, nicht erfüllt von uns, sondern von allem, dem wir dienen, hinübergedrängt über die Schwelle. Fast unbewußt was sie bedeutet.
Es ist schön, und wie selbstveständlich; dieser Aufmarsch der Familien am Wahlbureau. Vater und Mutter und Töchter. Die kleinen Kinder laufen mit. Sie wollen sehen, wie Mutter wählt. Und die Mutter sagt: sie sollen ihr ganzes Leben an diesen Tag denken.
Bei uns geht es trotz riesigen Andrangs und einer schlechten, mausehaften Anordnung des Bureaus friedlich und gutgelaunt zu. Alte Frauen führt der Polizist außer der Reihe hinein. Vertrauensleute der Parteien rennen wie die Schäferhunde an der straßenlangen Reihe der Wartenden auf und ab und lassen sich immer noch einmal wieder den Zettel zeigen; haben Sie auch den richtigen?
Als Fazit des Eindrucks von Wahlkampf und Wahlakt: Der ganze Streit um das Frauenstimmrecht kommt einem aufgebauscht und gekünstelt vor. Wenn wählen heißt: Volkswillen bekunden - d i e s ist erst Volkswille, das Natürlichste, Selbstverständlichste, Volkstümlichste von der Welt, vor dem alle die Gespensterseherei von früher zerschmilzt." (zit. aus Archiv des Liberalismus 2008. 12.11. 13:36:23*01'00')